Erwin Wagner musste zum 100 km Lauf nach Biel

"Irgendwann musst du nach Biel" lautet der Titel eines Buches des Laufpioniers Werner Sonntag. Der Titel gehört inzwischen zum geflügelten Spruch in der Laufszene. Und dieses „Irgendwann“ sollte für Erwin Wagner vom Lauftreff Westum in der Nacht vom 06. zum 07.06.2025 stattfinden. Lange hatte ihn die Distanz von 100 km abgeschreckt. Nun im fortgeschrittenen Alter, wo ihm die Zielzeiten nicht mehr so wichtig sind, glaubte er das Wagnis eingehen zu können. Nach dem Motte, wenn nicht jetzt, wann dann. Ein sicheres Gefühl gab ihm auch die beim Rhein-Ahr-Marsch über ebenfalls 100 km gemachte Erfahrung, eine ganze Nacht unterwegs zu sein. Und wenn er schon marschierend in einer Zeit knapp unter 17 Stunden im Ziel ankam, wo sollte da der Schrecken sein, wenn ihm jetzt 21 Stunden zur Verfügung standen. Er musste nur in einem vernünftigen Tempo das Rennen beginnen.

Je näher der krönende Abschluss eines Urlaubs rückte, umso schlechter wurden die Wettervoraussagen für die „Nacht der Nächte“. Schließlich wurde eine Unwetterwarnung herausgegeben. Als mögliche Auswirkungen wurden genannt: „Hohe Blitzaktivität, Sturmböen, Starkregen und Hagel. Stärkste Phase gegen 02:00 Uhr in der Nacht zum 7. Juni“. Von einer Absage des Laufs war aber zu keinem Zeitpunkt die Rede. So standen um 22:00 Uhr 950 LäuferInnen am Start in der Tissot-Arena in Biel. Der Himmel war wolkenverhangen aber es regnete nicht. Das sollte sich schon kurz nach dem Start ändern. Also schnell die Regenjacke aus dem Laufrucksack genommen und übergezogen. Die sollte Erwin auch bis ins Ziel nicht mehr ausziehen. Es regnete jetzt fast durchgehend und bei für die Jahreszeit niedrigen Temperaturen von unter 15° schützte die Jacke auch vor dem kalten Wind. Nach Mitternacht zogen dann die Gewitter vorbei und die aufleuchtenden Blitze sowie das laute Krachen des Donners ließen zuweilen schon ein mulmiges Gefühl hochkommen. Viele Gedanken konnte man sich darüber aber auch nicht machen. Schließlich galt die ganze Aufmerksamkeit dem vom vielen Regen aufgeweichten und damit rutschigen Boden, in dem sich teils tiefe Pfützen gebildet hatten. An die durchnässten Schuhe hatte man sich schnell gewöhnt. Bei dem Wetter war es dann schon vorteilhaft, dass ein Großteil der Strecke über asphaltierten Boden ging.

Nachdem die ersten Kilometer durch Biel gelaufen waren, führte die Strecke in der Dunkelheit der Nacht meist durch freies Gelände. In den zu durchlaufenden Orten war von der oft beschriebenen Partystimmung der Bewohner nichts zu merken. Nur vereinzelt fanden sich anfeuernde Zuschauer an der Strecke. Wer will sich bei dem Wetter auch begeistern. Da weder Mond noch Sterne mit ihrem Licht das Gelände ausleuchteten, hatten alle LäuferInnen ihre mitzuführenden Stirnlampen angeschaltet. Auch als sich das Teilnehmerfeld auseinandergezogen hatte, konnte der Streckenverlauf so durch die vielen Lichter erahnt werden. Beim Start konnte ein Gepäckstück abgegeben werden, welches dann nach Kirchberg transportiert wurde. Hier waren 58 Kilometer bewältigt. Erwin hatte von diesem Angebot Gebrauch gemacht und Wechselklamotten eingepackt. Wegen des andauernden Regens machte es aber keinen Sinn, die Kleider zu wechseln. Nur frische Socken und trockene Schuhe vermittelten eine kurze Weile ein schönes Gefühl. Dann waren auch diese durchnässt. Ab Kirchberg waren es aber auch „nur“ noch 42 km, also ein einfacher Marathon. Jetzt wurde es langsam hell und die Stirnlampe konnte im Rucksack verstaut werden. Erwin hatte sich das Rennen gut eingeteilt und konnte sein Tempo weiter beibehalten, auch wenn ihm das gegen Ende schon etwas schwerer fiel. Als er das Ziel in der Tissot-Arena nach 12:30 Stunden erreicht hatte, freute er sich sehr über die Begrüßung durch den Stadionsprecher: „Und hier kommt Erwin Wagner aus Deutschland. Er ist erster der AK M70 und das mit einer Zeit, die soll ihm in diesem Alter mal einer nachmachen.“ Von den 950 gestarteten hatten 216 aufgegeben. Erwin belegte im Gesamtfeld den 224ten Platz. Die Beine fühlten sich gut an, nur die Schultern und Arme waren etwas verspannt. Wahrscheinlich durch den Rucksack und vom Ausbalancieren auf den matschigen Streckenabschnitten.