The Crazy Peak Experience
Mit dabei Rolf Wäsche vom Lauftreff SV Westum

Bericht vom K78, der Königsdisziplin des Swiss Alpine Marathons, Davos

Die Abkürzung K78 steht für den weltgrößten Ultra-Berglauf mit durchschnittlich über 1000 Startern.
Was treibt nun einen Vierundsechzigjährigen dazu, sich der Herausforderung zu stellen, 78,5 km mit 2320 Höhenmetern, davon 21 km in hochalpinem Gelände, zu laufen? Antwort: Es ist die „ultimative“ Herausforderung der mentalen und körperlichen Kräfte in attraktiver Umgebung, die bei Erfolg eine für Außenstehende sicher kaum nachvollziehbare Mischung aus Glücksgefühl, Stolz und Selbstbewusstsein bewirkt.

Nachdem die zentrale Frage beantwortet ist, möchte ich die Leser an dem Lauf teilnehmen lassen:
Schon während der Fahrt nach Davos, erst recht aber in der letzten halben Stunde vor dem Start, versuchte ich, meine Vorbereitungen zu bewerten. Waren die 80-100 Wochenkilometer genug gewesen? Reichten die 50 km vom Lauf in Rodgau, der Paris-Marathon oder der Trainingslauf an der Ahr von der Quelle bis nach Bad Bodendorf aus? Hätte ich doch noch länger als fünf Stunden die „Landskrone“ hinauf und hinunter laufen sollen? Oder war ich übertrainiert, denn ich spürte vor dem Start leichte Beschwerden in den Knien. Am 28.7.07 stand ich also morgens im Stadion von Davos mit dem Gefühl des Respektes vor der Strecke und der Sorge, das Zeitlimit von 12 Stunden zu verpassen. Gegen 07.45 Uhr dröhnte die Musik noch lauter als zuvor, Favoriten wurden vorgestellt. Ich setzte mich auf den Kunstrasen in den Halblotussitz und versuchte, durch Meditation meine Unruhe zu bekämpfen und die eigenen Kräfte zu mobilisieren.Kurz vor 08.00 Uhr ertönte die Filmmusik “Conquest of Paradise“. In voller Lautstärke wummerten die Bässe über den Platz. Dann lief der Count Down ab. Das laute Mitzählen wirkte aufputschend und entspannend zugleich.

Nun ging es los! Es piepste beruhigend beim Laufen über die Matte für die Zeitmessung, und schnell fand ich meinen Laufrythmus. Die im Vergleich zu einem Stadtmarathon kleine Zahl der Aktiven ermöglichte ein unbehindertes Vorankommen. Dann begann die erste Etappe, die im Streckenprofil harmlos aussieht. Zunächst ging es durch offenes Gelände, doch der breite Weg wurde zusehends schmaler und steiniger. Im Wald musste über Stock (Wurzeln) und Stein gelaufen werden. Noch war ich voll konzentriert und gut bei Kräften. Nach 17 km passierten wir Läufer den malerischen Ort Monstein. Mit 1626m war er der höchste Punkt des ersten Teilabschnittes. Bald danach ging es steil bergab. Die Knie und die Gedanken meldeten sich wieder: Wie würde es erst beim Abstieg am Scalettapaß nach 60km sein? Anschließend folgte eine angenehme Streckenführung. Hohe Felswände und die tosende „Landwasser“ bildeten eine schöne Kulisse. Aus gleißender Sonne ging es in zwei stockdunkle Tunnel hinein. Nur schwer stellten sich die Augen um, und schon ging es wieder hinaus auf die Piste.
Inzwischen war das Thermometer auf deutlich über 25°C gestiegen. Mit dem Wiesner Viadukt wurde ein weiterer Streckenhöhepunkt erreicht. In ca. 100m Höhe überspannt dort eine kombinierte Eisenbahn / Fußgängerbrücke die Schlucht. Die Zeit für einen Blick nach unten in die Tiefe nahm ich mir. Auf schmalen Pfaden lief ich nun durch den Wald und über Almen nach Filisur, mit 1032 Metern der tiefstgelegene Punkt der Strecke. 31 Kilometer waren da erst oder schon zurückgelegt und ich spürte bereits die anspruchsvolle Strecke. Die Zuschauer im Dorf jubelten uns Läufern zu und winkten aufmunternd. Weiter führte der Weg stetig bergauf nach Bergün. Ich legte erste Gehpausen ein. Bei Km 39,2 zeigte die Uhr, dass ich bis dahin 4:40 Stunden gelaufen war, nach meiner Planung zu langsam. Unterwegs sprach ich mit zwei Läufern, die den K78 schon mehrfach gelaufen waren. Sie ermahnten mich, zurückhaltend zu laufen und meine Kräfte einzuteilen. Aber sie waren mir einfach zu langsam, das zeigte auch erbarmungslos die Uhr, und ich entschied mich, das Tempo zu erhöhen. Von Davos aus war meine Sporttasche nach Bergün transportiert worden. Das ermöglichte mir, meine Knie mit Pferdesalbe zu behandeln, mich nach einer „Katzenwäsche“ abzurubbeln, ein zweites Powergel zu mir zu nehmen und die klebrigen Finger zu reinigen.

Das nächste Ziel war die Kesch-Hütte auf 2632m, 1.300 Höhenmeter lagen also noch vor mir. Mein Vorhaben, durch schnelleres Laufen Zeit zu gewinnen, war aussichtslos. Zügiges Gehen war für mich angesagt. Ab Chants, auf 1.822 m Höhe gelegen ging der breite Schotterweg in einen steilen Bergpfad über. In der Ferne waren drei schmutziggraue Gletscherreste zu sehen. Die Sonne brannte und trotz der Höhe war es heiß. Wie gern hätte ich meine Füße in den Bergbach gesteckt. Stattdessen beunruhigte mich das Gefühl, eine Blase am Fuß zu bekommen.

Lobenswert war die Unterstützung der Sportler durch den Veranstalter. Die Verpflegungsstände waren im Abstand von ca. 5 km vor oder nach herausfordernden Streckenabschnitten genau richtig aufgebaut. Ich war vom steinigen Pfad, der Sonne und der Höhe voll gefordert. Endlich war die Hütte - einer Trutzburg gleich - zu sehen. Als ich sie erreichte, hatte ich 52,9 km geschafft. Nach einer kräftigen Nahrungsaufnahme begann der Höhepunkt des Laufs: Der 7 km lange, von Felsbrocken geprägte Panorama-Trail zum Scaletta-Paß. Von einem Bergpfad war nur wenig zu sehen. Rotweißrote Markierungen zeigten die Richtung an. Noch immer brüllte die Sonne vom Himmel und ich genoss die wirklich grandiose Aussicht trotz der schwierigen Wegstrecke. War ein Stück Pfad zu erkennen, versuchte ich zu laufen. Doch bald stürzte ich zum ersten Mal, als ich im Geröll stolperte, zum Glück fiel ich zur Bergseite hin. Aufrappeln war die Devise, kein Hindernis für die Nachfolger bilden. Ich hörte ihren Atem im Nacken. Einmal wieder nicht aufgepasst und ich lag erneut auf der Strecke. Laufend stellte sich die Entscheidung „Vorbeilassen“ der nachfolgenden Läufer oder „Tempo zulegen“.

Und dann zeigte sich die Bergwelt von ihrer unberechenbaren Seite: Mehrere Donnerschläge krachten und eine graue Wand kam auf uns Läufer zu. Nieselregen setzte ein, der folgende Temperatursturz war empfindlich spürbar, Blitze zuckten. Schließlich schüttete es wie aus Eimern, gemischt mit erbsengroßen Hagelkörnern; das Wasser lief von oben in die Schuhe. Ich fror erbärmlich und meine Finger waren krumm gefroren. Vor mir war niemand zu sehen; auch hinter mir waren keine Läufer zu erkennen. Nur der Rettungshubschrauber flog in der Nähe hin und her - wie beruhigend!

Auf einmal tauchte aus dem Nichts eine Verpflegungsstation auf. Es wurden Plastiksäcke zum Schutz gegen die Witterung ausgegeben. Die warme Brühe im Becher konnte ich kaum mit meinen steifen Fingern halten. Trotz der Plane fror ich bitterlich, doch trieb mich die Kälte auch wieder voran. Am Scaletta-Pass wurden wir durch Spalierband direkt auf den Sportarzt zur medizinischen Kontrolle geleitet. Auf seine Frage hin, wie es mir gehe, antwortete ich: “Ein Königreich für eine heiße Badewanne“. Offenbar machte ich einen guten Eindruck, so dass mich der Arzt weiterlaufen ließ. Nun war auch diese wichtige Etappe gemeistert. Meine Uhr zeigte mir einen akzeptablen Zeitpuffer an. Ich stellte für mich fest: Würde ich den folgenden schwere Abstieg meistern, könnte ich unter zwölf Stunden ins Ziel kommen und das allseits begehrte Finisher-T-Shirt in Empfang nehmen. In unangenehmen Serpentinen ging es nun bergab. Jüngere Läufer überholten mich leichtfüßig - eine bittere Erfahrung, die ich schon von anderen Bergläufen her kannte. Meine Knie hielten der Belastung stand. Nur nicht jetzt noch stürzen, war meine größte Sorge, und bei Dürrboden (KM 64.5) hatte mich die Zivilisation wieder. Weiter ging es leicht bergab auf Feldwegen durch Wiesen und an Gehöften vorbei. Hervorstehende Steine wurden von mir wie Feinde wahrgenommen. Wie gern wäre ich auf der Straße gelaufen, die ich sonst so verabscheue.

Das Ziel rückte näher, die Zeit stimmte. Doch die mentale Härte nahm ab, ich gönnte mir einige Laufpausen und ging im Schritt. Andererseits konnte ich auch wieder andere Läufer überholen. Das machte wieder Mut. Kurz vor Davos zweigte die Strecke zu einem kleinen „Umweg“ ab. Nur gut, dass ich mich über die Streckenführung informiert hatte, so blieb mir ein psychologischer Knacks erspart. Die letzten zwei Kilometer führten durch die Stadt. Der Stadionsprecher war weithin zu hören und überraschend schnell befand ich mich auf der Aschenbahn des Stadions. Kurz danach war das Zielportal erreicht, endlich! Die Urkunde wies dann eine exakte Zeit von 11:22:49 Stunden aus. Leider gab es im Ziel keine Finishermedaille! Ich war sehr zufrieden mit mir. Da ich, wie immer nach einer derartigen Kraftanstrengung, fror, zog ich meinen alten Parker an, der mich schon bei vielen Rennen begleitet hat. Wie gut dann der erste Schluck Weizenbier tat, kann sich jeder Leser sicher gut vorstellen. Im Nachhinein kann ich berichten, dass das Hochgefühl, diese lange und besondere Strecke bewältigt zu haben ähnlich lange anhält, wie nach dem ersten erfolgreich gelaufenen Marathon. Und sogar beim Schreiben diese Berichtes habe ich das Gefühl, dass im Körper noch einmal in Erinnerung an dieses Erlebnis die Endorphine aktiviert worden sind.