Rennsteig Super-Marathon 2011

Eine individuelle Betrachtung von Pirmin Braun

Bei der Startnummernausgabe hängt der Slogan "Wer in der Welt was auf sich hält, läuft von Eisenach nach Schmiedefeld". Ich möchte umdichten zu: "Die längste Theke der Welt erstreckt sich von Eisenach bis Schmiedefeld". Das wäre die Zusammenfassung des Rennsteiglaufes, den ich zur Abwechslung anstelle des üblichen Häuschenmarathons als langen Lauf mit Endbeschleunigung eingeschoben habe. Nach 16 Jahren startete ich nochmal als Wiederholungstäter zum langen Kanten. Damals bollerten wir mit einem 4.2 Liter Jeep (Firmenwagen) hin, schliefen im Massenlager, liefen unerfahren mit irgendwelchen Klamotten unter 7 h. Die Ausschreibung muss wohl beim Frankfurt Marathon ausgelegen haben. Als Superhightech-Errungenschaft durften wir einen backsteinschweren Klotz von Zeiterfassungschip mitschleppen. Diesmal Anreise im 1.0 Liter Smart, gepflegtes Residieren im Penta Hotel (2 Übernachtungen, Brunch am Sonntag, empfehlenswert), mit dem Taxi zum Start, ausgestattet mit Kompressionsfunktionskleidung (langwierig gegoogelt, optimiert und getestet), nach 8:34 im Ziel. Aber eben auch: damals ab km 50 mit Durchfall von Powerbars und Hungerast auf dem Zahnfleisch ins Ziel geschleppt, diesmal ein kulinarischer Genusslandschaftslauf fast ohne Muskelkater. Mein fingernagelgroßer iPod hat mit 2 GB doppelt so viel Musikspeicher wie damals eine raumfüllende ausgewachsene AS/400 (200.000,-- DM EDV-Anlage für mittelprächtige Firmen) Plattenspeicher hatte. Ziemlich viele hatten übrigens den iPod dabei, noch mehr hatten sexy Kompressionsstrümpfe an. Deren Nutzen sehe ich bei den Ultradistanzen mittlerweile skeptisch, habe nämlich blaue Flecken bekommen, die ich für Kompressions-Druckstellen halte.

Dieses Jahr starteten erstmals über 2000 auf der SM-Strecke (Super-Marathon, nicht Sado-Maso), so dass die Startnummern ausgingen. Was macht man traditionell im Osten mit 2000 Leuten? Man stellt sie in eine Schlange, um zu sehen wie lang sie wird. Dazu reicht es, einen Suppentopf hinzustellen und "Kloßparty" drüber zu schreiben. Oder "T-Shirt Ausgabe". Bevor sich die Schlange auflöste, war auch schon der unwirklich wirkende nachtschlafende Start und unzählige "zum 35. Mal dabei" T-Shirts wurden unter großer, freudiger Anteilnahme der vermutlich über jedwede Abwechslung dankbaren Lokalbevölkerung durch den sich auflösenden Morgennebel hinauf zum Inselberg getragen und zwar nicht nur über dunkle Nadelwaldpfade, sondern entgegen Rolfs Erinnerungen auch durch lockere, lichtdurchflutete Laubwälder voll frenetisch jubelnder Zuschauer. Kaum hat man mal seinen Laufrhythmus gefunden, kommt schon wieder eine Verpflegungsstelle eines lokalen Sportvereins, dessen ganze Anstrengung bei diesem Jahreshöhepunkt darauf ausgerichtet ist, die Nachbarvereine an kulinarischer Finesse und Servicequalität zu überbieten. Da setzt man sich doch gerne zum Schmaus bei Mettwurstbrötchen mit Kirschblüten, Schmalzbrot, Hefezopf mit Butter und Salz, Gürkchen, Schleim, Bier, Tee und Cola. Die in nutzloser Hast mit stierem Blick vorbeihastenden Kostverächter werden alsbald frisch gestärkt an der nächsten Steigung wieder eingesammelt.

Vor allem der sagenumwobene Schleim gilt als Markenzeichen des Rennsteiglaufes und es ranken sich zahlreiche Legenden darum. Hatte ich ihn damals noch in Unkenntnis verschmäht, ließ ich diesmal keine Gelegenheit aus. Es ist schon erstaunlich, welche Geschmacksrichtungen aus demselben Grundstoff, der seit 39 Jahren unverändert von den VEB Thüringer Schnecken-Zentrifugen in 10-Liter Kanistern bezogen wird, gezaubert werden. In den Jahren davor war noch mit ausgedienten Weinpressen, die zu Schneckenpressen umfunktioniert wurden, experimentiert worden. Das Ergebnis war jedoch geschmacklich und auch aus Tierschutzgründen (nur einmalige Verwendung des Kriechgutes) nicht zufriedenstellend. Erst als Jens Wötzel, einer der 4 Gründer des Rennsteiglaufes, versehentlich mit seiner Laufhose auch 1 kg anhaftender Nacktschnecken im Schleudergang der heimischen Waschmaschine mitrotieren ließ, gelang der Durchbruch zur nachhaltigen industriellen Produktion. So fällt des Läufers dankbarer Blick heute immer wieder auf die typischen an flache Gewächshäuser erinnernden Schneckengehege der großen Schneckenfarmen, die als einzige tragfähige landwirtschaftliche Nutzungsart der kargen Berghänge des Thüringer Waldes den ansässigen Grundbesitzern ein bescheidenes Auskommen und dem Läufer seine Kraftnahrung bescheren. Würde man etwas länger in den Bergdörfern verweilen, könnte man dem morgendlichen Schauspiel beiwohnen, wenn das Genossenschaftsauto mit seinem Saugrüssel aus den täglich am Sammelplatz bereitgestellten Zentrifugenkannen röchelnd das glibberige Rohmaterial in seinen Tank schlürft.

In den letzten Jahren, als aus den vier Rennsteiglaufgründern über 1000 Teilnehmer geworden waren, wurden die Schleim-Rezepte mehrfach nach neuesten ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen abgewandelt und ab Mitte der 1980er eine Babynahrung als Grundlage verwendet. Eine Schwierigkeit war die Zubereitung am Rennsteig, wo oft die Möglichkeit fehlte, in nahe gelegenen Großküchen die benötigten Mengen (mehrere tausend Liter) zuzubereiten und die nötige Temperatur über Stunden zu halten. Mit einfachen emaillierten Waschkesseln, die es vor allem in den sogenannten „VdgB-Läden“, wo für die Landbevölkerung alles angeboten wurde, was man so als Kleinbauer oder Gärtner benötigte, konnte auch dieses Problem gelöst werden. Heute sind Fertigprodukte aus der Babyversorgung die Grundlage des Rennsteiglaufschleims, die durch Anreicherung mit Obstsäften, Zitrone oder Heidelbeeren besonders schmachhaft gemacht werden. Die Rezepte werden von den Verpflegungsorten als gut gehütete Geheimnisse von Helfergeneration zu Helfergeneration weitergegeben.